R. Wyler: Schweizer Gewerkschaften und Europa 1960–2005

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Titel
Schweizer Gewerkschaften und Europa 1960–2005.


Autor(en)
Wyler, Rebekka
Erschienen
Münster 2013: Westfälisches Dampfboot
Anzahl Seiten
346 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sebastian Schief

Das Verhältnis der Schweiz zu Europa und auch die Rolle der Schweiz in Europa waren und sind ein heikles Thema. In regelmässigen Abständen wird dieses Verhältnis quasi eruptiv auf die Probe gestellt, meistens handelt es sich um Abstimmungen, die das Verhältnis neu justieren, in Frage stellen oder schlicht neuerlich auf das Tapet bringen. Rebekka Wyler beschäftigt sich in ihrer Studie mit einem Teilbereich dieses komplizierten Verhältnisses, nämlich der Frage, wie es die Schweizer Gewerkschaften mit Europa halten. Wyler analysiert das Verhältnis der Gewerkschaften zu Europa für die Zeitspanne von 1960 bis 2005, indem sie drei zentrale Elemente dieses Verhältnisses auf der Basis von Dokumenten überprüft und darlegt. Zunächst gilt es, die Europapolitik der Schweizer Gewerkschaften mittels zentraler Ereignisse zu analysieren. Die Autorin kann anhand mannigfalti- ger Quellen sehr überzeugend belegen, wie sich das Verhältnis der Schweizer Ge- werkschaften zu Europa – von der Frage der Gründung der EFTA 1960, über das Freihandelsabkommen von 1972, die Abstimmung über den EWR 1992, bis zu den sogenannten Bilateralen Abkommen der Schweiz mit der Europäischen Union – über die Zeit entwickelt hat. Andererseits war und ist dieses Verhältnis zwischen verschiedenen Fronten innerhalb der Gewerkschaftsbewegung höchst umstritten. Europa wird zum Teil als Gefahr für den Wohlstand und die Arbeitsbedingungen der Schweizerinnen und Schweizer wahrgenommen, im selben Augenblick ist für die Gewerkschaften selbstverständlich die internationale Solidarität von hoher Bedeutung. Es handelt sich also um einen trade off zwischen aussenpolitischer Offenheit und Schutz der Löhne und Arbeitsbedingungen in der Schweiz. Innerhalb der Gewerkschaftsbewegung zeigt Wyler mehrere Bruchlinien auf: Binnen- versus Exportbranchen, Inländerinnen und Inländer versus Ausländer und Ausländerinnen, die Frage nach einer rein wirtschaftlichen oder auch politischen Integration Europas. Spätestens mit der Abstimmung zu den Bilateralen Verträgen der Schweiz mit der Europäischen Union, im Zuge der Freizügigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Europäischen Union, setzt sich innerhalb der Gewerkschaftsbewegung der Gedanke durch, dass Europa als Hebel zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen innerhalb der Schweiz genutzt werden kann. Die Zustimmung der Gewerkschaften zu den Bilateralen Verträgen wird an sogenannte Flankierende Massnahmen – Massnahmen also, die Arbeitsbedingungen in der Schweiz schützen sollen – geknüpft. Auf diese Weise kann die Gewerkschaftsbewegung tatsächlich wichtige Verbesserungen der Bedingungen erzielen. Zudem zeigt sich, dass dieser Hebel Europa wirksam ist.

Der zweite Teil von Rebekka Wylers Analyse beschäftigt sich mit der Frage der Schweiz in Europa, also der internationalen Zusammenarbeit der Schweizer Gewerkschaften. Auch hier schwanken die Gewerkschaften zwischen Beiseitestehen und Mitarbeit in den europäischen Gremien. Wylers Analysen zeigen, dass es positive Beispiele der internationalen Zusammenarbeit gibt, generell aber eher eine Skepsis bezüglich der Nützlichkeit des internationalen Engagements besteht. Internationale Solidarität und Kooperation seien dementsprechend mögliche gewerkschaftliche Strategien, die je nach Situation zur Anwendung kommen, abhängig davon, ob Ressourcen vorhanden und Exponentinnen und Exponenten sich dem jeweiligen Thema annehmen.

Der dritte Teil der empirischen Untersuchung befasst sich mit dem Thema der transnationalen Zusammenarbeit auf Unternehmensebene. Hierfür untersucht Wyler detailliert drei Fallbeispiele Schweizer transnationaler Konzerne mit glo- baler Bedeutung: Alusuisse-Lonza, Holcim und Nestlé. Genauer gesagt geht sie der Frage nach, in welcher Art und Weise die europäischen Betriebsräte in diesen Unternehmen funktionieren und welche Rolle dieser relativ neue gesellschaftliche Akteur spielt. Wyler kann zeigen, wie sich die Corporate Governance der betrachteten Firmen mit der zunehmenden Globalisierung und Europäisierung über die Zeit verändert hat. Ebenso zeigt sich, wie stark die Möglichkeiten der europäischen Betriebsräte, also die Möglichkeit grenzüberschreitender Mitbestimmung, von den vorhandenen Mitteln der nationalen Verbände abhängen.

Rebekka Wyler ist es ausserordentlich gut gelungen, das oftmals widersprüchliche und sich dennoch entwickelnde Verhältnis der Schweizer Gewerkschaften anhand dreier zentraler Bereiche darzustellen. Der Faktenreichtum und die Virtuosität im Umgang mit den vorhandenen Quellen sind bemerkenswert und helfen sehr bei der Einordnung des Geschehenen in einen grösseren Rahmen. Diese konzise Studie macht zumindest zweierlei deutlich: Die Schweiz wie auch die Schweizer Gewerkschaften zeichnen sich durch ein fragiles Verhältnis von Nähe und Distanz zu Europa, genauer der Europäischen Union, aus. Befürchtungen und Hoffnungen, was dieses Verhältnis bringen möge, befinden sich im ständigen Widerstreit. Allerdings haben die Schweizer Gewerkschaften – ebenso wie die Schweiz insgesamt – einen pragmatischen, utilitaristischen Umgang mit der Europäischen Union gefunden. Mit dem Hebel Europa wurde und wird versucht, innenpolitisch Druck aufzubauen, um Veränderung im Sinne der Gewerkschaften zu erreichen. Wenn mein Eindruck nicht trügt, sind die Gewerkschaften mit dieser Idee der Europäischen Union als Druckmittel weder in der Schweiz noch in an- deren Ländern alleine. Das Verdienst Rebekka Wylers ist, dieses Verhältnis der Schweizer Gewerkschaften und Europas in präziser, detaillierter und hochgradig analytischer Form dargelegt zu haben. Die Erkenntnisse nutzen nicht nur den Gewerkschaften für eine ernsthafte Selbstreflexion, der so exzellent herausgearbeitete strategische Umgang mit der Europäischen Union kann auch in vielen anderen Bereichen der Schweiz und darüber hinaus Anstösse geben, die Frage nach dem Für und Wider einer allzu utilitaristischen Perspektive auf die Europäische Union zu stellen.

Zitierweise:
Sebastian Schief: Rezension zu: Rebekka Wyler, Schweizer Gewerkschaften und Europa 1960–2005, Münster: Westfälisches Dampfboot, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 483-484.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 483-484.

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